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Verbotene Wörter - oder: When evidence meets policy

Die meisten von euch haben es vermutlich mitbekommen: Kurz vor Weihnachten ging die Meldung durch die Medien, dass die Centers for Disease Control/CDC (vergleichbar ungefähr mit dem Robert-Koch-Institut in Deutschland) den heißen Tipp bekommen haben, in ihren Finanzierungsanträgen an den von Republikanern dominierten Kongress doch bestimmte Begriffe zu vermeiden, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben wollen. Auch wenn es kein Verbot ("ban") im engeren Sinne darstellt, ist der Blick auf die Liste der erwähnten "Negativ-Wörter" doch sehr aufschlussreich:
  • vulnerable
  • entitlement
  • diversity
  • transgender
  • fetus
  • evidence-based
  • science-based
Es wird schnell deutlich, welche Narrative den Entscheidungsträgern unangenehm aufstoßen. Hässlich ist, welchen Bewegungen damit Zugeständnisse gemacht werden. Das verdeutlicht ein Leserbrief in der New York Times:
Frowning on the use of “diversity” is a nod to white nationalism. Excluding “transgender” from our dialogue denies a population most at risk for health disparities. Prohibiting the word “fetus” and using “unborn child” is not only scientifically inaccurate, but also a bow to the right-to-life movement and a threat to women’s reproductive rights.

Avoiding the use of “vulnerable” populations is a cynical declaration of how this government devalues the poor and less fortunate among us. Most alarming is the advice to refrain from the words “evidence-based” or “science-based.” Evidence-based practice is at the center of safe and effective patient care.
Noch ausführlicher beschreibt das Problem ein Meinungsartikel in Annals Int Med, der Anfang Januar erschienen ist (leider hinter einer Paywall).  Darin erläutern die Autoren, welche "sieben Todsünden" durch Rücksicht auf die politischen Bedingungen entstehen können:

  1. Die CDC verletzen ihren Auftrag gegenüber dem amerikanischen Volk, alle Public Health-Entscheidungen auf Daten von hoher wissenschaftlicher Qualität beruhen zu lassen und alle mit Würde, Ehrlichkeit und Respekt zu behandeln - dazu gehört es auch, die Besonderheiten verschiedener kultureller und ethnischer Zugehörigkeiten sowie der sexuellen Orientierung und eigenen Gender-Zuordnung anzuerkennen. [Anmerkung: Inwieweit bisher Empfehlungen auf der bestverfügbaren Evidenz beruht haben, ist sicherlich sehr unterschiedlich - siehe z.B. die Diskussion um die Neuraminidase-Hemmer.]
  2. Wenn die CDC Umschreibungen und Euphemismen nutzen, widerspricht das dem Grundsatz der öffentlichen Behörden, dass ihre Mitteilungen für die Öffentlichkeit klar und verständlich sein müssen.
  3. Wenn die CDC Selbstzensur üben und bevorzugt die Interventionen implementieren, die der gewünschten politischen Ausrichtung entsprechen und nicht der besten verfügbaren Evidenz, verhindert das effektive Maßnahmen und verschwendet öffentliche Mittel.
  4. Wirksame Interventionen in Hoch-Risiko-Gruppen sind ein wichtiger Bestandteil von verantwortlichen Public-Health-Maßnahmen. Dazu ist es aber wichtig, diese Bevölkerungsgruppen eindeutig zu beschreiben - schwierig, wenn man das Wort "vulnerable" nicht verwenden soll.
  5. Vermeiden die CDC die Begriffe, kann es schwierig werden, die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) zu erreichen. Das betrifft etwa die Eindämmung von HIV, sexuell-übertragbarer Erkrankungen oder Virushepatitis in LGBT-communities oder die Forschung zum Zika-Virus, die den Fetus schädigen kann. 
  6. Die Autoren befürchten ähnliche Entwicklungen in vergleichbaren Behörden, etwa dem National Institute of Health oder der FDA und erinnern an die Säuberung der Websites der amerikanischen Umweltbehörde EPA, bei der der Begriff "climate change" umfassend getilgt wurde.
  7. Auch die gemeinsame Entwicklung von Leitlinien von CDC und Fachgesellschaften könnte einen Rückschlag erleiden - in den Bemühungen um mehr Evidenzbasierung wäre das fatal.
Natürlich kann man immer argumentieren, dass es schließlich nur um bestimmte Begriffe geht und die damit einhergehenden Konzepte nicht zwangsläufig leiden müssen. Aber im Einzelfall (und ich vermute, auch in einem größeren Kontext) kann eine fehlende öffentliche Finanzierung fatale Folgen haben. So ist gestern im BMJ ein kurzer Bericht erschienen, dass die Regierung Trump Gelder für eine Datenbank gestrichen hat, in der evidenzbasierte Reviews zu Verhaltensinterventionen im Bereich der seelischen Gesundheit und Suchtforschung verzeichnet sind. Der Laie denkt, eine solche Datenbank wäre in Zeiten der Opioidkrise doch sehr notwendig - ist sie aber offensichtlich nicht, wenn die Vorgehensweise (und möglicherweise auch die Ergebnisse) nicht politisch opportun ist. 

Diese Überlegungen knüpfen auch schön an die Episode des Podcasts "Gesundheit macht Politik" (übrigens hier mal eine grundsätzliche Hörempfehlung!) an, in der Philip und Pascal Silke Jäger und mich zu den Evidenz-Geschichten interviewen. Dabei streifen wir auch das Thema, welche Rolle Evidenz und Werte in gesundheitspolitischen Entscheidungen spielen (sollten). Natürlich spielen Werte immer mit in die Entscheidungen hinein. Die aktuellen Ereignisse halte ich aber für eine deutliche Mahnung, was passieren kann, wenn die Werte dominieren und die Evidenz ignoriert wird.